Zwei gehen über den Regenbogen

Irish                                                                        

 5. Juni 2011, Sonntag: ein wunderschöner Frühsom­mertag kündet sich an. Ich gehe in die Küche, um mir eine Tasse Tee aufzugiessen – da höre ich metallische Schläge von draussen: es ist mein Pferd, Irish, der mit den Hufen gegen das robuste Eisentor schlägt – ein Zeichen grosser Schmerzen. Ich renne hinaus, rufe ihn an; da kommt er auf mich zu, lässt sich aber auf den Vorplatz fallen und wälzt sich im groben Schotter. Als ich bei ihm bin, sehe ich, dass er sich Beine und Kopf bereits wundgeschürft hat, er muss furchtbare Schmerzen haben. Kolik! Ich rufe sofort den Tierarzt; bis er eintrifft, hat sich Irish aufgerappelt, ist wieder zusammengefallen, wieder hochgekommen –es ist grässlich. Die zwanzig Minuten, bis der Tierarzt da ist, erscheinen mir wie eine Ewig­keit. Irish ist auf den Beinen, lässt sich nun untersuchen. Ein langer Blick vom Tierarzt: zuerst zu Irish, dann zu mir. „Das ist keine Anschoppungs- oder Blähkolik“, sagt er, „das ist eine Darmverschlingung. Der Kreislauf ist am Versagen. Ich werde Irish jetzt eine krampflösende und schmerzstillende Injektion spritzen. Diese sollte sofort wirken. Falls die Wirkung nach einer halben Stunde nachlässt, gibst du mir Bescheid, dann komme ich wieder“.

   „Und, was ist dann?“ frage ich, völlig verstört. „Es ist unwahrscheinlich, dass ein 29jähriges Pferd das überlebt“, ist die ehrliche Antwort.

Der Tierarzt fährt weg – ich bin bei meinem Pferd, führe ihn aufs Gras, damit er sich nicht noch mehr verletzt. Er wird jetzt ruhiger. Er steht einfach da, mit hängendem Kopf; grasen mag er nicht. Ich hole Wasser, Schwamm und Desinfektionsmittel und wasche seine Schürfstellen. Sobald ich mich kurz von Irish entferne, wiehert er nach mir – also bleibe ich neben ihm und spreche zu ihm, streichle seine weichen, warmen Nüstern, seinen Hals. Zwanzig Jahre haben wir miteinander das Leben geteilt.

Wir wa­ren Freunde, erlebten Stürme und Glückseligkeit; unser gegenseitiges Vertrauen war tief und unerschütterlich. Sollte das alles nun enden, so abrupt, so grausam?

Ich schaue in Irish’s Augen. Es ist, als sähen wir einander in die Seele: da ist nur Liebe und Dankbarkeit.

Eine halbe Stunde ist so vergangen, Irish ist noch ruhig, und in mir flammt die Hoff­nung auf – aber kurz danach kommen die Krämpfe erneut und heftig. Ich muss den Tierarzt wieder rufen. Er ist sehr rasch da – Irish liegt im Gras. Wir wissen: es gibt keine Rettung mehr, wir können jetzt nur noch dieses Leiden so rasch als möglich be­enden. Der Tierarzt setzt die Kanüle. Zu zweit helfen wir Irish beim Aufstehen. Ein letztes Mal führe ich meinen Gefährten über den Vorplatz, halte ihn an der Halfter, bis er fällt – wie ein Baum. Mein Pferd, mein Kamerad. Ich fasse es nicht. Ich bleibe zurück und weiss: das war mein letztes eigenes Pferd.

Ich schaue meinen Irish an, und von einem lange vergessenen Lied kommen mir einige Verse in den Sinn:

„Ich hatt‘ einen Kameraden, einen bessern find’st du nit………..

…….mir wurde er weggerissen, er liegt zu meinen Füssen

als wär’s ein Stück von mir - als wär’s ein Stück von mir.“

Seither begleiten mich diese Liedzeilen.

Etwas Grossartiges fehlt. Etwas Grossartiges bleibt: die Liebe.

 

Artax      

Es ist der zwölfte Juni. Am 6. Juni wurde ich am Knie operiert. Seit ein paar Tagen bin ich wie­der zu Hause, die Stöcke brauche ich nur noch zeitweise, um Überbelastung zu vermeiden. Ich bin im Haus, da meine Mitarbeiterin den Abendstall für mich übernommen hat. Als sie sich verabschie­den kommt sagt sie: „Übrigens: Artax hat sein Heu nicht angerührt. Aber er ist ruhig“. Für mich heisst das: Alarm! Ich hinke in den Stall. Artax liegt jetzt in der Boxe, sein Bauch ist aufgetrieben, und er wälzt sich. Schon wieder muss der Tierarzt her, wieder am Sonntag, und nur eine Woche nach Irish’s Tod.

 Diesmal hat die mitarbeitende Tierärztin Dienst; da sie in der Nähe ist, kommt sie rasch. Artax schwitzt, schlägt mit seinen Hinterbeinen gegen den Bauch, wirft sich hin, steht wieder auf – und die Untersuchung ergibt dieselbe Diagnose wie vor einer Woche bei Irish: Darmverschlingung. Artax ist 28 Jahre alt…

Bei ihm hilft jedoch die sofort verabreichte Spritze gar nicht mehr, eher im Gegenteil: sein Körper schlägt unkontrolliert herum, er fällt hin, schiesst wieder hoch – in seinen Augen ist nur noch Schmerz. Zum ersten Mal verliere ich fast die Nerven und schreie die Tierärztin an: hole das Mittel, rasch! Rasch! Als sie eilends mit den nötigen Utensi­lien kommt, explodiert etwas in mir. „Nicht auch noch Artax! Nicht er auch noch! Nein – nein – Artax!“ Doch dann schaltet alles aus. Zusammen mit der Tierärztin knie ich in der Boxe neben Artax. Sein Kreislauf ist schon kollabiert, die Spritze bringt die letzte Erlösung. Da liegt er in der Einstreu – erst jetzt kann ich Abschied nehmen, ihn noch­mals streicheln, ihm danken. Viel zu schnell und brutal kam dieser Tod, unfassbar.

 Ich lasse Artax so liegen, in der Boxe, die er mit seinem um vier Jahre jüngeren Bruder Amun geteilt hat. Nun nähert sich Amun langsam, kommt in die Boxe. Er schnuppert vorsichtig an Artax, umkreist ihn einmal und geht leise wieder hinaus. Kurz danach folgt Laura, die Eselin; sie verabschiedet sich von Artax auf dieselbe Weise. Es rührt mich, und es tröstet mich. Wie weise sind doch die Tiere. Der Tod gehört für sie zum Leben: Sie nehmen ihn hin.

Und doch trauerte Amun. Oft stand er nun einfach in einer Ecke oder an eine Wand ge­lehnt, reglos, stundenlang. Ich sorgte mich – konnte er überleben ohne seinen Bruder? Nach drei Monaten und viel Ermunterung durch Laura und mich, entschloss er sich, wieder am Leben teilzunehmen. In seine Augen kam der Glanz und auch der Schalk zurück, und seither geniesst er wieder die Weide und balgt sich mit Laura herum. Und er zeigt uns: das Leben geht weiter! Und wenn wir eines Tages „über den Regenbogen“ gehen, werden wir mit all unseren Tiergefährten wieder vereint sein.

 Ruth Maurer, November 2011