Thais

Wie Ihr ja schon erfahren habt, lebe ich seit dem 13. Januar 2005 im SAMANA WASI. Als ich hierher kam, wollte ich nur etwas: fressen, soviel ich nur bekommen konnte! Ich war richtig ausgehungert. Nun erklärte mir aber meine Betreuerin, dass sie mir nicht allzu viel von dem guten Kraftfutter geben dürfe, weil nämlich meine Hufe in einem schlimmen Zustand seien.

Tatsächlich schmerzten mich meine Hufe, und sie waren auch sehr warm. Ich hatte eben im Sommer auf den grossen Weiden unkontrolliert viel zu viel Gras gefressen; das kann ebenso zu einer zu hohen Eiweisskonzentration im Organismus führen wie ein Zuviel an Kraftfutter – und daraus entsteht dann, zusammen mit mangelnder Hufpflege, die sogenannte Hufrehe. Nun, dafür bekam ich sehr viel feines Heu, und meine Boxennachbarn Vouck und Tonnère, schauten ganz neidisch zu mir hinüber, wenn ich meine Extrarationen erhielt. Vor allem Tonnère streckte seinen Hals so weit vor, dass ich um meinen „Schatz“ fürchtete und nun meinerseits zum Angriff startete: ich sprang hoch und biss Tonnère ins Gesicht. Nun hatte ich zwar meine Ruhe; aber der arme Tonnère hatte eine klaffende Wunde unter dem linken Auge, und der Tierarzt musste kommen, um zu nähen. Ich verzog mich in eine Ecke und schämte mich, denn eigentlich wusste ich, dass man im SAMANA WASI freundlich zueinander ist, ob man nun zwei oder vier Beine hat… Gottlob ist Tonnère’s Verletzung gut verheilt; und sicherheitshalber haben unsere Betreuer die Trennwand zwischen unseren Boxen etwas erhöht, damit es keine solchen Zwischenfälle mehr geben kann. Nach meiner Ankunft hier wurde ich zuerst einmal gründlich gepflegt. Mein ganzes Fell starrte vor Schmutz: eine zähe, stinkende Mischung aus verkrusteter Erde und Mist. Ruth Maurer rückte mir mit Striegel, Bürste und speziellen spitzen Kämmen zu Leibe, aber an gewissen verplatteten Stellen musste sie zur Schere greifen, um mich von diesem Filz zu befreien. Ah, war das eine Wohltat! Täglich wurde ich ein bis zwei Stunden auf diese Art fast zentimeterweise gesäubert, bis ich nach einer Woche halbwegs wieder als weisser Schimmel erkenntlich war und meine Haut wieder atmen konnte. Auch meine Hufe wurden behandelt: der Hufschmied schnitt die langen, überständigen „Schnäbel“ an meinen Vorderhufen zurück, gegen die Entzündung bekam ich Arnika-Kügelchen ins Futter, und die Hufe wurden mit der Heilerde AION A eingestrichen. Vom Tierarzt bekam ich eine Wurmkur „verpasst“; ansonsten schien er mit mir ganz zufrieden zu sein – ausser, dass ich eben fast nur noch aus Haut, Fell und Knochen bestand… das hat sich inzwischen jedoch schon gebessert. Manchmal, in den langen Winternächten, kommt eine leise Sehnsucht auf nach meinem einstigen Meister. Er hatte mich als junges Pferd (ich habe immerhin Abstammungspapiere aus einem Gestüt in Lipiça!) übernommen und mich in der Dressur ausgebildet. Manches Wochenende waren wir auf Dressurplätze gefahren, und es hatte mir immer grosse Freude bereitet, die verschiedenen Programme zu reiten. Mein Meister liebte mich innig und schaute gut zu mir. Aber dann wurde er krank, und seine Stimmung war meist düster und traurig. Auch konnten wir nicht mehr an Dressurprüfungen teilnehmen, weil ich in die Jahre gekommen war; ich war mittlerweile 22 jährig. Eines Tages sagte mir mein Meister, dass wir uns nun trennen müssten und er einen guten Weideplatz für mich suchen wolle. Er fragte in Le Roselet an, welche ihn ans SAMANA WASI weiter verwiesen. Ganz verzweifelt klopfte er daraufhin an einem Sonntagmorgen dort an. Ruth Maurer musste ihm jedoch mitteilen, dass im SAMANA WASI leider auch keine Boxe mehr frei sei. Sie gab ihm jedoch drei weitere Adressen an, wo er es noch versuchen könne; sie kenne die Bedingungen dort jedoch nicht. Mein Meister fand dann die entlegene Weide, wo ich unterkam. Ruth Maurer besuchte mich dort kurz darauf; es war Sommer, und ich war gut genährt und gepflegt und die Welt noch in Ordnung. Dann kam der Winter. Ich wurde mit unglaublich vielen anderen Pferden in einer Halle untergebracht; es gab wenig Futter und überhaupt keine Pflege. Ich wurde apathisch und magerte ab und dachte oft an meinen Meister. Was wohl aus ihm geworden war? Warum besuchte er mich nie? Es kam der Tag im Januar, als ich von zwei Männern in einen Tiertransporter geführt wurde. Wo sollte ich wohl hinkommen? Bedeutete dies gar das Ende? Der Weidebesitzer hatte mir einmal gedroht, mich zum Metzger zu bringen, wenn er kein Geld mehr für mich bekomme. Ich zitterte, als ich nach kurzer Fahrt aus dem Anhänger geführt wurde. Aber da stand kein Metzger, sondern Ruth Maurer mit einem freundlichen Begleiter! Ich durfte in ihren grossen Transporter einsteigen, und dann fuhren wir einen sehr weiten Weg. Ich verhielt mich ganz ruhig, denn ich spürte: nun durfte ich, durch eine glückliche Fügung, doch noch ins SAMANA WASI. Ruth Maurer erzählte mir dann eines späten abends, als es still und friedlich war im Stall, dass sie ganz zufällig erfahren habe, dass mein einstiger Meister sich das Leben genommen habe und deshalb die Pensionszahlungen für mich (vorläufig) unterbrochen wurden. Sie hatte sich daraufhin sofort mit dem Weidebesitzer in Verbindung gesetzt, der ihr dann auch seine Absicht darlegte, mich zum Metzger zu bringen. Da mittlerweile im SAMANA WASI eine Boxe frei geworden war, konnte Ruth Maurer sofort handeln und mich um den sogenannten „Metzg-Preis“ freikaufen. Wer hätte denn schon ein Pferd wie mich noch erben wollen! Hier in Rüti darf ich nun bleiben, bis es auch für mich Zeit wird für meine letzte Reise; und wenn ich „über den Regenbogen“ gegangen bin, werde ich bestimmt meinen geliebten, guten Meister wieder sehen. RM