Der zweite Verlust

Es war Nacht; die Nacht des 24. auf den 25. Januar. Ich schlief unruhig. Um 1.00 Uhr erwachte ich, stand ans offene Fenster, horchte in die Nacht, hinauf zum Stall. Es war alles still und friedlich… eine klare Nacht. Der unruhige Schlaf ging weiter. Als ich am Morgen gegen 7.00 Uhr in den Stall kam, um die Tiere zu füttern, streckten mir nur sieben von ihnen die Köpfe erwartungsvoll entgegen. Wo war Tonnerre? Ich stürzte zu seiner Box: da lag er, auf dem Rücken, die Beine in die Luft gereckt: Kolik! Ich alarmierte sofort den Tierarzt, dann halfterte ich Tonnerre an und half ihm aufzustehen. Ich gab ihm homöopathische Tropfen, um die Schmerzen ein wenig zu lindern, und führte ihn an der Hand spazieren. Tonnerre konnte sich kaum auf den Beinen halten; sein Atem ging schwer und in kurzen, harten Stössen; der Bauch war aufgetrieben und seine Augen und Nüstern blutunterlaufen. Das Pferd in diesem Zustand noch in einen Transporter und in die Klinik zu bringen, war unmöglich. Der Tierarzt war rasch zur Stelle und spritzte sofort Schmerz- und Entkrampfungsmittel. Die rektale Untersuchung ergab, dass der Herd wieder dort sass, wo er schon bei den vorhergehenden Koliken zu finden war: ganz vorne beim Blinddarm. Der Tierarzt gab Weisung, mit Tonnerre weiterhin zu spazieren und ihn nach 15 Minuten zurück in die Boxe zu stellen, wo er sich aber keinesfalls hinlegen dürfe. Die gespritzten Mittel sollten bald Linderung bringen und zwei Stunden wirken. Aber es trat keine Besserung ein, im Gegenteil: Tonnerre konnte kaum mehr gehen; und als ich ihn zurück in die Boxe brachte, brach er sofort zusammen. Es war unmöglich, dieses 650 kg schwere Pferd daran zu hindern, sich zu Boden fallen zu lassen. So kniete ich mich zu ihm hin; er legte seinen grossen Kopf auf meine Knie, ich streichelte ihn und flüsterte ihm zu – ich wusste, es würde zu Ende gehen mit ihm; und sein langer, inniger Blick sagte mir, dass er dies auch wusste. Tonnerre – mein guter, treuer Kamerad – warum? Noch gestern Nachmittag hast du friedlich mit Hardy und Irish in der Wintersonne gegrast; im rosa-goldenen Glanz hast du noch ein paar Halme abgerupft, während ich deine Pferdegefährten in den Stall führte. Ich holte dich zuletzt, weil du es so genossen hast… als ahntest du, dass es das letzte Mal war… Du hast mit Genuss das warme Mash gefressen, und als ich den letzten Spätgang durch die Stallungen machte, standest du ruhig in deiner Box, nichts liess eine Kolik erahnen. Tonnerre schaute und horchte und antwortete auf seine Weise. Wir nahmen still Abschied voneinander; mein Herz war voller Dankbarkeit – und voller Trauer. Dann rief ich erneut den Tierarzt an. Er hatte selber schon vermutet, dass Tonnerre wohl nicht mehr zu retten war. Er kam bald. Würde es möglich sein, Tonnerre noch einmal auf die Beine zu bringen, damit er unten auf dem Vorplatz eingeschläfert werden konnte? Ja, Tonnerre nahm nochmals seine ganze Kraft zusammen; er stand auf und wankte an meiner Hand hinunter. Es war sein letzter Liebesdienst… ganz still stand er dann da und liess sich vom Tierarzt die Kanüle setzen. Ich hielt Tonnerre bis zuletzt. Als das tödliche Mittel in sein Blut schoss, stürzte er augenblicklich zu Boden – er war sofort tot, erlöst von seinen furchtbaren Schmerzen. Vor meinen inneren Augen zogen die Bilder vorbei, Tonnerre bei uns: dieses bescheidene, unkomplizierte Pferd, das sich mit allen anderen Tieren vertrug; nun war seine schöne Seele unterwegs, über den Regenbogen heim in die happy lands, heim zu Vreneli… wir blieben zurück, die Betreuer und die SAMANA WASI-Tiere, und eine sehr leere Boxe… und die dankbare Erinnerung an ein sehr edles Geschöpf. Ruth Maurer, April 2006