Der vierte Verlust

Das Neue Jahr hatte eben erst begonnen: am 2. Januar 2007 mussten wir für unseren Rapeur den Tierarzt rufen. Der 34jährige Isländer Schimmel, unser ältestes Pferd, schien sich nicht wohl zu fühlen. Auf die von uns verabreichte Homöopathie, die bisher stets geholfen hatte, sprach er nicht an, und seine Verdauung wollte nicht in Gang kommen; auch ein längerer Spaziergang half nicht. Der Tierarzt spritzte krampflösende und schmerzstillende Medikamente, und diese brachten für eine Weile Linderung; Rapeur konnte auch wieder misten. Er verweigerte aber sowohl das Heu als auch das Mischfutter, nur eine kleine Portion warmes Mash nahm er zu sich. Das grössere Problem war, dass er nicht trinken wollte, auch nicht das temperierte Wasser; dabei wäre gerade die Flüssigkeitsaufnahme für eine gute Funktion des Darmes sehr wichtig. Am 3. Januar war Rapeurs Zustand unverändert. Er zeigte zwar keine Schmerzen oder Symptome von Bauchkrämpfen, aber er lag nun viel, ganz ruhig und friedlich. Am späten Nachmittag mistete er noch einmal, und wir hofften, dass sich Rapeur erholen würde. Doch am Morgen des 4. Januar war sein Zustand unverändert: kein Mist in der Boxe, und weiterhin keine Aufnahme von Futter oder Wasser. Nach längeren Aufenthalten auf dem Auslauf legte sich Rapeur wieder friedlich in seiner Boxe nieder. Ich besprach mich nochmals mit dem Tierarzt. Es war klar: wenn wir Rapeur die Klinik ersparen wollten – mit der Prozedur von Infusionen, Schlundsonde und unangenehmen Rektaluntersuchungen – musste ich ihn erlösen, bevor heftige Krämpfe auftreten würden. Einmal mehr setzte ich mich zu Rapeur in die Box. Sein dichtes Fell – das ihm bei uns den Namen „Teddybär“ eingebracht hatte – war weich und warm; in den Augen lag ein sanftes Leuchten, und der Atem ging langsam und regelmässig. Es war, als sei Rapeur’s Seele schon unterwegs: als schaute er durch ein offenes Tor, das uns Erdenmenschen (noch…?) verschlossen war. Ich wusste Rapeurs Antwort auf meine stumme Frage. Am Mittag des 4. Januar, einem grauen, kühlen Regentag, führte ich Rapeur aus dem Stall. Er ging an meiner Hand wie ein junges, freudiges Fohlen. Dem letzten Wiehern seines Sohnes Vouck, der über 31 Jahre an seiner Seite gelebt hatte, antwortete Rapeur nicht mehr. Er hatte den Abschied bereits vollzogen. Augenblicke später war seine Seele durchs offene Tor ins Licht entflogen. Ich ging zurück in den Stall. Vouck war sehr verstört und rief immer wieder nach seinem Vater Rapeur. Ich gab ihm die Bachblüten Notfalltropfen und nahm sie auch gleich selber ein. Rapeur und Vouck waren die beiden ersten Tiere, die ins SAMANA WASI kamen, am 30. April 2002, und sie hatten ihre Lebensjahre hier in der Pferdegesellschaft und auf den Weiden ausgiebig genossen. Würde Vouck über den Verlust von Rapeur hinwegkommen? Würde der Lipizzaner Schimmel Thais ihm dabei helfen können? Sie waren immer zu dritt auf der Weide gewesen. In den ersten zehn Tagen nach Rapeurs Tod war Vouck Thais gegenüber abweisend. Er verweigerte ihm auch die gegenseitige Fellpflege und trabte davon, wenn Thais sich näherte. Mittlerweile haben sich die beiden arrangiert; aber kein anderes Pferd kann Vouck den Vater ersetzen. Rapeur fehlt uns allen; und damit müssen wir, auch mehr als zwei Monate später, erst zu leben lernen. Ruth Maurer, Januar 2007